Internationaler Museumstag 2020
Vom Werden einer Ausstellung
Gedanken zur Neukonzeption der Regionalgeschichtlichen Dauerausstellung als einer barrierefreien Exponatenschau
von Dr. J. Witowski
Das NHMS versteht sich als ein Museum für jedermann. Das heißt, dass wir all jenen, die an unseren Ausstellungsinhalten interessiert sind, Zugang zu den verschiedenen Dauer- und Sonderausstellungen in unserem Haus gewähren möchten. Unserer Philosophie nach sollte ein Museum sich nicht in erster Linie als Tummelplatz intellektueller Eliten verstehen, die den Museumsbesuch als Vergleichsfolie ihres angelesenen Fachwissens betrachten - auch wenn uns diese Zielgruppe ebenso willkommen ist wie jede andere. Ein Museum sollte bemüht sein, für jeden etwas Erstaunliches und Interessantes bereitzuhalten, ohne dabei freilich die hehren Ansprüche einer demokratischen Bildungseinrichtung zu unterwandern. Unserem Bildungsauftrag entsprechend, möchten wir vor allem eins: lehrreich unterhalten!
Dieses Motto ist freilich einfacher formuliert als umgesetzt. Die große Schwierigkeit besteht darin, die unterschiedlichen Interessen und Motivationen, die die sehr verschiedenartigen Besuchergruppen mitbringen, unter einen Hut zu bringen. Die Seniorengruppe eines lokalen Geschichtsvereins stellt in der Regel andere Ansprüche an eine regionalgeschichtliche Ausstellung als eine Familie mit drei kleinen Kindern. Ein in sich stimmiges Ausstellungskonzept ist hier der Schlüssel zum Erfolg. In diesem sollte der Begriff "Barrierefreiheit" ein wichtiges Leitthema darstellen.
Zugegeben, der Begriff mag dem einen oder anderen überstrapaziert, ja abgenutzt erscheinen. Tatsächlich hat man zuweilen das Gefühl, Barrierefreiheit ist in aller Munde, ohne dass erkennbar wäre, wo sie wirklich umgesetzt wird. Mit Blick auf ein Gebäude denkt man vermutlich zuerst an den uneingeschränkten Zugang für RollstuhlfahrerInnen und Menschen mit Bewegungseinschränkungen. Selbstverständlich ist das auch ein Thema, mit dem wir uns intensiv beschäftigen, zumal ein historischer Schlossbau wie die Bertholdsburg naturgemäß mit zahlreichen Treppenaufgängen, Stufen, Engstellen und unterschiedlichen Bodenniveaus aufwartet. Derzeit ist es für einen gehbehinderten Besucher äußerst mühselig, für jemanden im Rollstuhl gar unmöglich, einen Großteil unserer Räumlichkeiten zu betreten.
Die geplante Neugestaltung unserer regionalgeschichtlichen Dauerausstellung, die in den kommenden Jahren gemeinsam mit der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten realisiert werden soll, bietet uns die einmalige Gelegenheit, moderne Konzepte der Barrierefreiheit in die Umbaumaßnahmen mit einzubeziehen. Natürlich sind wir uns bewusst, dass den baulichen Eingriffen durch den Denkmalschutz Grenzen gesetzt sind - immerhin möchten wir die historische Gestalt unserer Renaissance-Anlage und ihren Charm bewahren. Doch Barrierefreiheit sollte nicht allein auf die Zugänglichkeit von Räumen beschränkt bleiben, in einem Museum sollte sie auch ein evidentes Leitsystem und mithin gut verständliche Texttafeln und Objektbeschriftungen beinhalten. Einige Herausforderungen und Lösungsansätze möchten wir Ihnen im Folgenden vorstellen...
(1) Problem: Romantisch aber mühsam.
Treppentürme wie diesen gibt es auf der Bertholdsburg drei Stück: Dieser Aufgang im Gerichtsturm wird den Besuchern auch künftig den Zugang zu den oberen Etagen der Ausstellung sowie zu unserem Veranstaltungsraum ermöglichen.
Für Menschen mit Bewegungsschwierigkeiten stellt er allerdings ein oft unüberwindbares Hindernis dar.
(1) Mögliche Lösung: Ein Aufzug
Mit Hilfe eines Aufzuges ließen sich Treppen und unwegsame Stellen problemlos und in kürzester Zeit überwinden. Da man in einem denkmalgeschützten Haus wie Schloss Bertholdsburg nicht ohne Weiteres in die Gebäudestruktur eingreifen darf, würde sich der Anbau eines möglichst unauffälligen Außenfahrstuhls anbieten. Die Platzierung müsste sich nach Aspekten der Relevanz (z. B. Kann ich über den Aufzug, wichtige Räumlichkeiten wie etwa den Veranstaltungsraum erreichen?), der Optik (Wo stört der Aufzug am wenigsten den historischen Eindruck der Anlage?) und der baulichen Realisierung (An welcher Stelle ist ein Anbau überhaupt möglich?) richten.
Foto: Errichtung eines Außenfahrstuhls auf Schloss Fallersleben (Niedersachsen), Wolfsburger Allgemeine Zeitung, 07. Februar 2020.
(2) Problem: Ein Eingang, ein Rundgang
Das NHMS verfügt über eine Ausstellungsfläche von über 2.000 m²; hiervon fallen 850 m² auf die regionalgeschichtliche Ausstellung. Bisher gibt es nur einen einzigen Rundgang, auf dem man die meisten Räume des Schlosses sowie die drei Dauerausstellungen entdecken kann. Dieses Gesamterlebnis möchten wir unseren Besuchern auch künftig ermöglichen. Jedoch zeigt die Erfahrung, dass nicht jeder willens oder in der Lage ist, ein solch großen Rundgang zu absolvieren. Erschwerend kommt hinzu, dass der lange Weg durch das Schloss zahlreiche Hindernisse wie etwa Treppen, Stufen und zu öffnende Türen bereithält.
(2) Mögliche Lösung: Ein eigener Eingang für die Geschichte
Wir möchten es unseren Besuchern zukünftig möglich machen, Tickets für einzelne Ausstellungsteile zu erwerben. Wer sich für die Mineralogie oder die Urzeit Thüringens interessiert, der kauft eine Eintrittskarte für die naturkundliche, wem an der Geschichte Schleusingens und der Grafen von Henneberg gelegen ist, der kauft eine Karte für die regionalgeschichtliche Ausstellung. Selbstverständlich bleibt es dem Gast auch weiterhin vorbehalten, sich den gesamten Ausstellungsbereich anzusehen.
Die zukünftige regionalgeschichtliche Dauerausstellung soll über einen separaten Eingang zugänglich sein. Idealerweise wird ein bereits bestehender Zugang im Südflügel der Bertholdsburg zum neuen Eingangsbereich ausgebaut werden können. Ein großer Vorteil: Er ist beinahe ebenerdig, sodass selbst Rollstühle oder Kinderwägen problemlos Einlass finden.
(3) Problem: Orientierungsschwierigkeiten
Sich in einem Museumsrundgang nicht zu verlaufen, dürfte die grundlegendste Prämisse eines jeden Ausstellungsgestalters sein. Doch besonders in alten Gemäuern ist der vorgesehene Weg oft nicht selbsterklärend. Von Zeit zu Zeit ist es nötig, dem Besucher einen Hinweis zu geben, auf welcher Route er sich die Ausstellung am besten erschließen kann. Das ist besonders für selbstführende Museen, wie das NHMS eines ist, wichtig.
(3) Mögliche Lösung: Ein diskretes aber anschauliches Leitsystem
Eine moderne Ausstellung benötigt ein modernes Leitsystem! Soweit, so gut. Aber was ist ein modernes Leitsystem?
Wie immer gibt es hierzu nicht eine, sondern zahlreiche Antworten. Für uns sind zwei Punkte wesentlich: Wir möchten dem Besucher einen Orientierungsplan mit an die Hand geben, der ihm die großen Themenschwerpunkte der regionalgeschichtlichen Ausstellung vorstellt und mit dem er zielgerichtet und informiert durch das Gebäude gehen kann. Dieser sollte übersichtlich und leicht verständlich sein.
Das Motto dabei muss lauten: Unterschiedliche Gewohnheiten, unterschiedliche Lösungen. Nicht jedem gefällt es, mit einem gedruckten oder digitalen (etwa über das Smartphone) Gebäudeplan durch ein Museum zu wandern. Wer keinen Plan möchte, soll sich an einem modernen Leitsystem, welches in den Räumen selbst montiert ist, orientieren können. Wie ein solches Leitsystem für das NHMS aussehen kann, bedarf freilich noch der Feinabstimmung. Soviel sei gesagt: Das Leitsystem soll optisch ansprechend sein, ohne dabei durch eine allzu große Auffälligkeit die eigentlichen Exponate und Ausstellungsinhalte in den Hintergrund treten zu lassen.
(4) Problem: Präsentation und Beschriftung
Eine Ausstellung wird nicht nur nach inhaltlichen, sondern auch nach ästhetischen Kriterien gestaltet. Letzteres ist natürlich in hohem Maße vom jeweiligen Zeitgeschmack sowie von den zur Verfügung stehenden Gestaltungsmöglichkeiten abhängig. Die derzeitige regionalgeschichtliche Dauerausstellung hat ihre letzte größere Umgestaltung in den 1960er Jahren erlebt. Vieles vom dem, was damals angemessen war, entspricht heute nicht mehr dem Standard: Die wenigsten dürften es als wirklich schön empfinden, dass das Milchglasgefäß im rechten Bild in einer wuchtigen Holzvitrine vor einer dunkelbraunen Stoffverkleidung präsentiert wird.
Als problematisch erweist es sich auch, dass auf eine Beschriftung des Objektes verzichtet wurde. Den wenigsten dürfte bekannt sein, dass es sich bei diesem Gefäß um einen Papiermacherpokal aus dem Jahr 1739 (Inventarnr.: RG-Slg., B 411, V 2028) handelt.
(4) Mögliche Lösung: Schlichte Eleganz und Anschaulichkeit
Für den Papiermacherpokal von 1739 würde man heutzutage eine wesentlich schlichtere Präsentationsform wählen. Immerhin ist das Gefäß, nicht die Vitrine die Attraktion der Ausstellung! Bei der Präsentation gilt: Weniger ist manchmal mehr. So bietet es sich zuweilen an, Exponate wie das Maßwerk links im Bild frei ganz ohne störende Vitrine aufzustellen.
Allerdings soll die Präsentation des Maßwerkes künftig seine Nutzung bzw. seine Platzierung im nicht mehr vorhanden Gebäude erkennen lassen: Was wir vor uns sehen, ist kein Bauteil, dass im Fußbodenbereich zu finden war. Vielmehr haben wir es mit einem Zierwerk aus dem ehemaligen Schleusinger Barfüßerkloster zu tun, das einst einen Fensterabschluss oder eine Wandöffnung zierte.
Um die ehemalige Funktion des Objektes anzudeuten und weil die Beschriftung "Maßwerk" nicht für jedermann zur Erklärung ausreichend sein mag, böte es sich in diesem Fall an, das gewichtige Stück in ein Fenstermodell o. dgl. einzusetzen.
Bedeutung und Funktion des erwähnten Papiermacherpokals dürften wohl durch eine anschauliche Zeichnung am ehesten ersichtlich werden. Darauf abgebildet: Ein zeremonieller Festakt der Papiermachergilde aus dem 18. Jahrhundert.
(5) Problem: Zuviel Information
Ein Museum ist eine Bildungseinrichtung, es möchte Wissen vermitteln. Diesen Auftrag möchten wir erfüllen. Doch stellt die Informationsflut, die manche Ausstellungen durch unzählige Tafeln und Textschilder anbieten, eine permanente Überforderung für Augen und Gehirn der Besucher dar. Bei der Fülle der immer gleichen Tafeln verliert man schnell den Überblick.
Außerdem lenken die vielen Erklärungen nicht selten von den eigentlichen Objekten ab. Beim ermüdenden Durchkämpfen durch die Texttafeln fehlt einem nicht selten die Kraft und Ausdauer die Exponate selbst zu würdigen und den Reiz des "Alten" auf sich wirken zu lassen.
(5) Mögliche Lösung: Unbedingtes Maßhalten
Erläuterungen sind essentieller Bestandteil der Museumsarbeit. Im Bereich der Geschichte trifft das vor allem auf Gegenstände zu, die längst nicht mehr gebräuchlich und uns damit oft unbekannt sind. Auf Texte kann daher auch in der spartanischsten Ausstellung nicht verzichtet werden.
Doch sollte die Textlänge maßvoll und dem schnellen Verstehen zuträglich sein. Um seitenlange Fachtexte zu lesen, muss man nicht in ein Museum gehen. Vielmehr ist darauf zu achten, dass die textlichen Erklärungen auch für ein differentes Publikum verständlich bleiben. Darüber hinaus sollte es Tafeln in einfacher Sprache geben, die Kindern und Menschen mit Sprachproblemen helfen, die Ausstellungsinhalte zu erfassen.
Sehbehinderten oder blinden Besuchern, aber auch Legasthenikern und Analphabeten kann ein Audioguide helfen, sich die Ausstellung zu erschließen. Doch ist hier darauf zu achten, welche Zielgruppe(n) man mit dem Audioguide ansprechen möchte. Ideal wären natürlich Programme, die auf verschiedene Besucherbedürfnisse zugeschnitten sind: Ein des Deutschen noch nicht mächtiger Migrant benötigt vielleicht ein reduziertes Sprachniveau, ein geistig behinderter Besucher zudem eine Reduzierung des Informationsgehaltes. Da die anfallenden Kosten solche Differenzierungen für die meisten Museen unmöglich machen, ist es sinnvoll, sich zu überlegen, welche Besuchergruppen besonders oft ins eigene Museum kommen.
Die Grenzen eines barrierefreien Ausstellungskonzepts
Den Gedankenspielen und theoretischen Möglichkeiten zur Schaffung eines barrierefreien Museums sind keine Grenzen gesetzt, wohl aber ihrer praktischen Umsetzung. Leider spielt hierbei immer auch die Geldfrage eine essentielle Rolle. Uns Mitarbeitern im NHMS bindet nicht selten die Gebäudestruktur von Schloss Bertholdsburg die Hände. Das Schloss ist ein historisch gewachsener Baukomplex mit unterschiedlich dimensionierten Räumen, verschiedenen Deckenhöhen und Bodenniveaus. Eingriffe in den Baukörper sind nur bedingt und unter Beachtung der Denkmalschutzbestimmungen erlaubt. Nicht selten gibt auch die Statik des Gebäudes die Art und Weise der Umbaumaßnahmen vor. So ist es schlichtweg unmöglich die Schlossküche im Westflügel (siehe 2. Bild unten) zu vergrößern, um einem Rollstuhlfahrer die nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen.
Letztlich muss unser Motto lauten: Wir arbeiten mit dem, was wir haben. Die zahlreichen geräumigen Zimmer im Ausstellungsbereich lassen sich problemlos mit barrierefreien Konzepten bespielen. Und auch schwer zugängliche Räume können durch 3D-Animationen zumindest virtuell erlebbar gemacht werden. Flexibilität und Ideenreichtum sind hier das Gebot der Stunde.
Zudem lässt sich Barrierefreiheit (und Inklusion) nicht allein auf Maßnahmen zur Mobilitätssteigerung beschränken. Barrierefreiheit ist weit mehr! Barrierfreiheit bedeutet, die Bedürfnisse möglichst vieler potentieller Besuchergruppen zu erfassen und diese sinnvoll in das inhaltliche und gestalterische Konzept der Ausstellung einzubeziehen. In unserer neuen Dauerausstellung zur Regionalgeschichte möchten wir uns dieser schwierigen Herausforderung stellen, um allen unseren Besuchern ein einmaliges Erlebnis zu bieten. Wir arbeiten mit Nachdruck und Begeisterung daran, Geschichte nicht nur anschaulich, sondern auch erlebbar zu machen.
Sie wollen mehr über das Thema Barrierefreiheit und Inklusion erfahren?
Hier finden Sie einige Empfehlungen:
- Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zum inklusiven Museum, 2013
- Handreichung des Deutschen Museumsbundes zu Museum und Migration, 2015
- Beitrag von A. Schoder über die Realisierung von Barrierefreiheit im Musem auf mus.er.me.ku, 2017
Ein Beispiel aus der Praxis: 2019 ist das Museum für Ur- und Frühgeschichte Thüringens in Weimar für die Umsetzung eines barrierefreien Konzepts ausgezeichnet worden. Nähere Informationen finden Sie HIER.